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Ein Kurzgeschichtenband
ist unter dem Pseudonym
Jim Levin im Luisenstädter
Verlag erschienen.
Zu beziehen über "Kontakt".
  Geschichte:

Neunundzwanzig und ich
von Jörg Liesegang

Wie viele eigene Kinder Großmutter hatte vermag niemand genau zu sagen, einige Söhne wurden als Kinds-Soldaten in den Krieg gebracht, einige Töchter wiederum von Manns-Soldaten abgeholt, manchen war bei dem großen Keuchhusten die Luft weg geblieben, andere hatten auf der Flucht die mütterliche Hand verloren und kehrten nie wieder heim, aber als der Wohlstand erneut im Lande blühte, wurden ihr von den durchgebrachten Kindern dreißig Enkelkinder geschenkt und eins davon bin ich.

So wie sich ihre Familie vermehrte, so wuchs auch Großmutter, ihr Umfang wurde gewaltig.
„Jedes Kind zwei Kilo,“ scherzte sie, wenn sie sich wieder ein neugeborenes Enkelkind auf ihren massigen Körper ablegte, um es gütig in der Welt zu begrüßen. Und so alt sie auch wurde, nie versiegte die Milch in ihren Brüsten, alle dreißig von uns hat sie selbst gestillt und wahrscheinlich die halbe Nachbarschaft noch dazu. Dickes borstiges Haar umsäumte ihr rundes Gesicht, ein riesiger Mund stütze ihre vorwölbende Nase, die von zwei funkelnden blauen Augen flankiert war.
„Kinder,“ sagte sie, wenn sie ihre Brut um sich geschart hatte, „ich will euch nur glücklich sehen, und glücklich seid ihr, wenn ihr versorgt seid.“
Verheiratet, meinte sie damit, und neunundzwanzig hatten sich daran gehalten, hatten geheiratet und der Großmutter Urenkel geboren, neunundzwanzig waren fleißig und ich - ich hatte mich noch nicht entschieden.
„Entscheid dich endlich, Junge,“ sagte mir Großmutter, ich war oft bei ihr, weil ich bei ihr in dem riesigen Haus wohnte. Sie griff meine Hand, beugte sich zu mir und ihre Haare kitzelten mich an der Stirn als ihre Stimme ernst wurde, „ich will sterben, Junge, aber vorher will ich dich glücklich sehen.“

Die Jahre vergingen. Ich entschied mich nicht. Großmutter wollte nicht sterben. Schon über Hundert war sie und das Treppensteigen bereitete ihr allmählich Schwierigkeiten. Ihr Pfarrer und ihr Arzt beknieten mich im Wechsel doch endlich zu heiraten, und sei es nur um meine Großmutter von ihrem irdischen Dasein zu erlösen. Meine Familie ersann sich die aufwendigsten Pläne um mich zu verkuppeln. Meine Brüder und Cousins packten mich eines Nachts und steckten mich in einen riesigen Sack, den sie über zwei Tage in einem feuchten Keller lagerten und dann in den Kräutergarten eines Nonnenklosters warfen. Am nächsten Morgen fand die Altvordere des Klosters mich und stach mit ihrer Krücke auf mich ein. Zwanzig im Frühgebet exaltierte Jungnonnen wurden Zeuge meiner Auspackung und für zehn Tage wurde ich als Aussätziger gepflegt, ehe ich als Zimmermann verkleidet entfliehen konnte. Mitleid habe ich mit dem Handwerker, den ich überrumpelte, dem ich die Kleider abnahm und der nun an meiner Statt gepflegt wird. Friede wünsche ich seiner umsorgten Seele.

Um nichts standen dem meine Schwestern und Cousinen nach. Sie verkauften mich kurzerhand mitsamt meiner Adresse, Einkommensverhältnissen und Telefonnummern an sämtliche Partnervermittlungsfirmen des Landes, was mir unruhige Wochen verschaffte, bis ich dem Postboten verbat mir die Post zu bringen und meine Telefonnummer sperren ließ. Davon nicht entmutigt, sammelten sie Geld bei der älteren Verwandtschaft und beschafften mir eine Prostituierte um mich wieder auf den Geschmack zu bringen. Tatsächlich besuchte mich am nächsten Tag eine Dame mit zwei Tigern, einer Cobra, einigen Käfigen und Taschen aus denen ihre Ausrüstung hervorquoll, mit ihren Fingernägeln kratzte sie an der Tür, als ich sie nicht einließ und sie fauchte. Kataloge schleppten meine Verwandten an, aus Russland und Asien, sogar Pygmäenfrauen aus Afrika gab es in der Rubrik „Für jeden etwas“. Die mitfühlenderen Tanten wollte mit mir reden, sie schickten mich von Psychotherapeuten zu Sexualforschern und erfuhren so mit Erleichterung, dass ich bereits mehrmals in meinem Leben mit einer Frau Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Die Realisten der Familie werteten dies jedoch als letzten Beweis meines hoffnungslosen Falles: Wenn nicht einmal Sex mich überzeugen könne, wer oder was solle es sonst tun?

Letztendlich schaffte mein Mitgefühl was den Bemühungen meiner Nächsten versagt geblieben war. Großmutters schmerzende Hüfte, ihre sich füllenden Tränensäcke, ihre schlaffen Wangen, zuletzt die Urin-getränkten Vorlagen machten einen Bräutigam aus mir. Die junge Frau lief mir beim Bäcker über den Weg, als ihre Brötchentüte platzte und ich ihr beim Aufsammeln half, wollte sie sich mit mir zum Kaffee verabreden, doch ich nahm sie gleich mit zu Großmutter. In ihrem Zimmer hatte sie die Rollläden etwas herunter gelassen und das Sonnenlicht legte einen Fächer aus einzelnen Strahlen auf ihren riesigen Rücken, ihr dickes Haar wurde vereinzelt von hinten beleuchtet und ihr rundes Gesicht verschwamm in einem Halbschatten aus dem die beiden blauen Augen funkelten.
„Diese, Großmutter, ist es,“ sagte ich. „Diese will ich heiraten.“
Meine Großmutter horchte auf, mit ihrer Hand tätschelte sie die Hand des beklemmt lächelnden Mädchens, mit der anderen tastete sie ihr Gesicht ab, dann fühlte sie ihr über Busen und Gesäß, ein wenig schämte ich mich für meine Großmutter.
Abfällig hob die greise Frau ihre kräftige Stimme und ich hörte ihr Gebiss schlagen: „Potzblitz, Junge, was soll das? Schmeiß deine Liebe nicht einfach so weg. Was willst du mit so einer, ihr Rücken ist nicht gerade und ihre Haut hat keine Wärme. Du sollst dir keine Sorgen machen, so lang kann ich schon noch warten mit dem Sterben, aber komm mir nicht noch einmal mit so einer an.“

So traurig mich das auch stimmte, so war ich doch zufrieden und erleichtert. Das Mädchen bugsierte ich zur Haustür und gab ihr Geld für den Kaffee den sie mit mir hatte trinken wollen. Auch meine Verwandtschaft war durch meine Opferbereitschaft versöhnt, nun überlegten wir gemeinsam, wie wir meiner Großmutter ein schönes Ende bereiten könnten, mit einer passenden Partie meinerseits. Wieder waren es die Cousinen und Schwestern die einen Vorschlag machten. Wieder sammelten sie Geld, aber dieses mal richtig viel Geld. Die Familienvilla wurde verpfändet, ein Teil der Firma meines Patenonkels verkauft, die anderen Onkel verscherbelten ihre Uhren und Krawattennadeln, die Tanten ihren Erbschmuck, bis wir ein kleines Vermögen angehäuft hatten. Damit traten wir vertraulich an die Tochter des Oberbürgermeisters, um sie für zwei Wochen zu mieten. Diese Tochter war eine Prinzessin! So liderlich wie ihr unsere bürgerliche namenlose Familie auch erscheinen mochte, so benötigte ihr Vater doch Spenden für den nächsten Wahlkampf, und hätte sie alles Recht gehabt widerwillig den Vertrag einfach auszuführen, so überraschte sie uns mit ihrem Einsatz und ihrem Willen uns allen zu gefallen.

Als Putzmädchen hatte meine Tante sie in das Haus eingeführt und meiner Großmutter vorgestellt. Der Plan sah vor, dass wir uns in sieben Tagen verlieben sollten, am zwölften Tag sollte die Hochzeit sein und zwei Tage waren für Großmutters Tod einberechnet. Des Oberbürgermeisters Tochter Betragen uns gegenüber war von äußerster Zärtlichkeit. Mit Freuden kochte sie die leckersten Speisen, sie wusch die Gardinen und klopfte die Teppiche aus, die Räume unserer alten verpfändeten Villa erstrahlten in einer unbekannten Reinlichkeit, überall lag ihr zarter Hauch in der Luft, in den Vasen waren Blumensträuße, die Obstschalen waren gefüllt mit Südfrüchten und ihr helles freundliches wohlerzogenes Wesen erwärmte unsere Herzen. Am siebten Tage war es dann endlich so weit, wir hatten uns vor Großmutter einen Kuss zu geben, für zweieinhalb Stunden am Tag liefen wir, vertraglich dazu angehalten, Händchenhaltend zusammen herum. Des Oberbürgermeisters Tochter selbst war es, die am neunten Tag unvorhergesehen die Oma von unserer Hochzeit erzählte, fast als wollte sie ihr Ableben beschleunigen.
Und am elften Tag zog Großmutter mich heimlich zu sich heran. „Bist du glücklich?“ flüsterte sie mir zu als sie sicher war, dass wir alleine waren.
„Ja,“ strahlte ich, und fast hätte ich mir selber geglaubt.
Großmutter nickte bedächtig und schmeckte den Satz ab, der ihr auf der Zunge lag. „Aber du wirst es nicht lange bleiben,“ stellte sie traurig fest.
Ich starrte sie an.
„Versteh mich nicht falsch, Junge,“ bat sie und legte ihren Arm um mich, „aber du wirst sie nicht glücklich machen können. Irgendwann wird sie mehr wollen und dann wirst du in dir kramen und nichts finden was du ihr geben könntest.“ Sie kratzte sich das Knie. „Tu mir einen Gefallen, Junge, geh raus und schick mir das junge Ding.“

Wie in Hypnose stand ich auf und rief des Oberbürgermeisters Tochter zu ihr. Still setzten wir anderen uns um den riesigen Küchentisch, ein paar Tanten und Cousinen waren da, und wir alle starrten wie gebannt auf die hohe cremeweiße Flügeltür, hinter der meine Oma mit ihr sprach. Wir alle hatten uns an die Tochter des Oberbürgermeisters gewöhnt. Nach ein paar Minuten kam sie heraus, Tränen standen ihr in den Augen, sie gab mir einen Backenkuss.
„Großmutter hat recht, wir würden nicht zusammen passen. Sie ist so eine tolle Frau,“ heulte sie.
Dann packte sie ihre Sachen und verschwand. Nichts ließ sie uns zurück bis auf den Vertrag den mein Onkel mit ihrem Vater aufgesetzt hatte, sie hatte ihn zerrissen, und wie ein letztes Schluchzen lagen die Fetzten auf dem Kopfkissen in ihrem ehemaligen Zimmer.

Düstere Zeiten brachen an in unserem Haus. Die Blumen ließen ihre Köpfe hängen, die Wasserhähne tropften als würden sie weinen, die Glühbirnen leuchteten weniger hell und die Treppen stöhnten unter unseren schweren Schritten. Allein Großmutter war unberührt von allem. Ihre Falten schienen eingefroren, ihr Körper bewegte sich kaum noch, kein Geruch ging von ihr aus, sie nahm keine Nahrung zu sich, nur abends trank sie ihr rohes Ei mit einem Schuss Likör. Es schien als habe sie sich auf eine lange Wartezeit eingerichtet. Ihre Ruhe färbte auf mich ab, die Monate vergingen, die Onkel, Tanten, Cousinen, Schwestern und Brüder wurden stiller und lebten mehr denn je in ihren eigenen kleinen Familien, nur ich blieb beständig bei Großmutter. Ihre ruhige stille Laune wurde meine eigene, oft saß ich bei ihr und versank mit ihr in Gedanken, ohne ein Wort zu sprechen war es als reisten wir zusammen in unseren Köpfen hin und her.
Mir wurde klar, dass mich niemand auf der Welt so kannte wie meine Großmutter, gleichzeitig schauten wir beide auf, ihr Blick berührte den meinen und ich sagte: „Großmutter, ich will dich heiraten, es geht gar nicht anders, du bist die einzige, die meine Frau werden kann.“

Großmutter hustete. Ihre Hände wurden blass und ihr Kopf rot. Ihre Augen traten hervor und schienen etwas zu suchen. Wild bemühte sie sich an etwas fest zu halten, ihre fuchtelnden Arme verfehlten mich und sie stürzte halb über die Lehne des Plüschsessels. Ihr Husten wurde leiser, kräftig bewegte sich ihr Brustkorb aber keine Luft schien in sie herein zu kommen. Ein Ruck ging durch den riesigen Leib, eine kräftige Welle schaukelte sich durch die Fettmassen und verebbte in den Polsterfedern. Sie war gestorben. Ich beugte mich über sie und küsste ihre Haare.

Die Fenster riss ich auf, zerrte den Rollladen nach oben, warf die Flügeltür auseinander und brüllte so laut ich konnte. „Großmutter ist gestorben, kommt alle her, sie hat es geschafft, Großmutter ist tot!“
Ungläubig kamen ein paar Cousinen und Cousins aus ihren Räumen. Wie kurzsichtige Maulwürfe blinzelten Tanten aus der Küche, ein Onkel ließ vor Schreck den Eimer mit den Eierkohlen fallen den er gerade aus dem Keller trug und wie erschreckte Mäuse purzelten sie in die Tiefe. Ein freudiges Brummen verbreitete sich im Haus, Essen wurde herbeigeschafft, das Weinlager aufgestockt, das Totenhemd gestärkt und gebügelt, die Stofftapeten wurden ausgebürstet und festliches Kerzenlicht strahlte von den Wänden. Immer mehr Menschen strömten in unser Haus, die Kinder schlängelten sich durch das Beingewirr und tranken unter dem großen Tisch Champagner, eine Geige und eine Trompete machten Musik, wir tanzten dazu, Berge von Käse und Weintrauben verschwanden in unseren Mündern.

Erschöpft von dem Feiern trugen wir Großmutter am dritten Tag zu Grabe, wie ein einziges langes Einatmen schritten wir zusammen durch die Stadt zum Friedhof. Die Bevölkerung der ganzen Stadt kam auf die Strasse. Die drei Tage Feiern hatten uns verrückt gemacht, wir schrieen und heulten, die Musiker ergossen sich in ihre Instrumente, der Pastor predigte so herzergreifend, dass der heilige Petrus persönlich an Großmutters Grab kam um sie in den Himmel zu begleiten, während wir uns laut klagend von dem versinkendem Sarg verabschiedeten. Blumenberge türmten wir in der Grube auf mit unseren letzten Wünschen, so dass der Haufen von den Totengräbern niedergetrampelt werden musste um noch Platz für die erforderliche Erdschicht zu schaffen. Zuletzt einigten wir uns alle in einem einzigen tosendem „Amen.“

Dann hatten wir genug Luft geholt und das Feiern ging weiter. Singend kamen wir zurück zu unserem Haus, das noch vergrößert schien, die Menschen strömten zu uns herein, das Festmahl wuchs und wuchs, die vollen Weinfässer wurden gar nicht mehr in den Keller gebracht sondern gleich verzehrt und leer wieder zu den Fenstern hinaus geschmissen. Enten und Hühner gackerten noch kurz bevor sie in dem Kochtopf endeten, immer mehr Musiker kamen, bald spielte ein ganzes Orchester auf und trieb uns zu immer neuen Tänzen an. Während meine Cousins und Brüder müde wurden, drehte ich mich im Kreis und alle klatschten mir zu. Neunundzwanzig Schwestern und Schwägerinnen, echte und angeheiratete Cousinen hatte ich zum tanzen für mich allein. „Neunundzwanzig,“ schrie ich laut und stolz, als ich plötzlich die dreißigste in meinen Händen hielt, aus der Menge war sie mir zugefallen, jung war sie und gut fühlte sie sich an in meinen Armen, ihr dickes borstiges Haar kam mir bekannt vor, ihr rundes Gesicht schenkte mir ihr Lachen, ihr riesiger Mund stützte ihre vorwölbende Nase, die von zwei funkelnden blauen Augen flankiert war.
„Bist du es, Großmutter?“ fragte ich sie.
Es war laut, meine Brüder schrieen wie Ochsen und meine Cousins stampften wie Pferde, die Musik drehte sich immer schneller, aber sie schien mich zu verstehen und reckte sich zu meinem Ohr: „Wenn du willst.“

Ich erwiderte ihr Lachen, lachte als ich an den leeren Sarg dachte, den wir alle an dem Tag beerdigt hatten, lachte als ich mich umsah: mitten zwischen meinen Cousinen und Cousins, meinen Tanten und Onkeln, mittendrin hielt ich Großmutter in meinen Händen. Der Wein floss in unsere Kehlen, unsere Bäuche stopften wir uns voll, Engel tanzten an den Wänden, und ich drehte mich und drehte mich mit ihr in sie hinein und die ganze Welt, sie drehte sich mit.